DER LANGE SCHATTEN DES MAULBEERBAUMS | Heinrich Göttel

Verlag: Europa Buch
Preis: € 19,90
Genre: Fiktion
Reihe: Universum
Seiten: 726
Sprache: Deutsch
EAN: 9791220105071

Die Herkunft des Autors aus multiethnischer Umgebung und seine Spezialisierung auf die Short Story geben dem Leser tiefe Einblicke in die donauschwäbische Kultur und Lebenswelt über ein Menschenalter hinweg. Der lange Schatten des Maulbeerbaums mit ihrem zeitlosen, von der Literatur der 20. Jahrhunderts beeinflussten Stil präsentieren 82 Prosatexte und 148 Gedichte. Der Dichter vergegenwärtigt die verlorene Heimat im einst toleranten Neben- und Miteinander im Völkergemisch Pannoniens, das tragische Zerbrechen der traditionellen Welt durch gegenseitige Gewalt und Hass, die Verfolgung der deutschen Bevölkerung Jugoslawiens, ihre Flucht und Lagerzeit in Österreich, den Aufbau einer neuen Heimat in Kanada. Sowohl Göttels Kurzgeschichten wie auch seine Gedichte sind autobiografisch grundiert, leben aber aus ihrer eigenen poetischen Realität.

Der Kommissar wacht auf, torkelt an den Grubenrand, beugt sich weit vor und zählt laut: „Eins, zwei, drei. Wo ist der Vierte?” brüllt er. „Er hat auf die Not müssen”, sagt Peter. Der Kommissar eilt an den Rand des Maisfelds. „He”, schreit er, „melde dich.” Er stampft neben dem Maisfeld auf und ab. „Melde dich, du Schwabenschwein”, schreit er. Er stürmt ins Maisfeld hinein, nimmt das Gewehr von der Schulter und brüllt: „Melde dich, sonst knalle ich dich ab.” Er steht eine Weile stockstill, dann dreht er sich hastig um und eilt zur Grube zurück. „Wenn der ausreißt, knalle ich euch ab”, schreit er. „Kommt rauf.” Als sie vor ihm stehen, fletscht er die Zähne und schlägt mit dem Gewehrkolben auf sie ein. „Abknallen sollte ich euch, ihr dreckigen Schwabenschweine”, keucht er. „Geht ihn suchen.” Dann schüttelt er heftig den Kopf. „Wir werden ihn schon erwischen.” Er geht ans Grubenende und reißt mit seiner Schuhferse eine Rille in die trockene Erde. „Bis hierher grabt ihr heute”, schreit er.

Heinrich Göttel, am 29. Mai 1930 in Pivnice als jugoslawischer Staatsbürger geboren, floh 1944 mit seiner Familie nach Österreich. Im Lager in Innsbruck hatte er die Möglichkeit, die Schule zu besuchen und an der Universität ein Studium der Literatur und Philosophie zu beginnen. Nach seiner Heirat 1953 wanderte er zusammen mit seinen Eltern und Schwiegereltern nach Kanada aus. Als Angestellter bei General Motors ging er 1986 in den Ruhestand mit der Absicht, sich von nun an ganz dem Schreiben zu widmen. Ab 1997 lieferte er monatlich für die deutschsprachige Zeitung „Das Echo“ Kurzgeschichten. Ricarda Huch und Georg Trakl waren schon vor der Flucht seine ersten literarischen Erweckungserlebnisse gewesen. Auf dem Weg zum eigenen Stil dienten ihm auch Hermann Hesse, Gottfried Benn und Günter Eich als Vorbilder.